Manifest der Liebe – Ein Essay über Cancel Culture, Kunst und die Zumutung von Ambivalenz
by Cordula Frei
Cancel Culture: The Architecture of Exile
"Soften the glare. Merge with dust."— Tao Te Ching
Sie lehnte an der Reling der Fähre uns blickte in das grau-braune Gewässer der venezianischen Lagune.
Über ihr landeten und starteten die Flugzeuge und auf jedem der Pflöcke im Wasser sass eine Möve. „ Schau Mama“- rief das Kind hinter ihr in dem überfüllten Boot welches sie in das Herz der Stadt zum Lido bringen sollte, „schau, auf jedem der Hölzer sitzt genau ein Vogel“. Die Mutter antwortete geduldig und sie erinnerte sich an die vielen Jahre, als ihre Kinder so klein waren, dem Leben voller Staunen zugewandt.
Überall Wasser. War es Meer, dieses brackige Braun oder ein Gemisch von Süss- und Abwasser, hier draussen am Flughafen, wo ihre Maschine mit einer Stunde Verspätung gelandet war. Durch das offene Fenster spritze eine Welle, verursacht von einem der zahlreichen Vaporettos die vorbei schnellten auf die beiden japanischen Touristen die vor ihr sassen. Die junge Frau war erst entsetzt und erstarrte, dann lachte sie schallend. Sie zeigte auf ihr pitschnasses Kleid und sagte auf englisch zu ihrem Freund: „It is cold“! Und lachte abermals. An der Spitze des Bootes sass ein junges Paar mit einer grossen, selbst gemalten Karte in der Hand: „Herzlich Willkommen in Venedig und Herzlichen Glückwunsch“ stand dort erst auf deutsch, dann auf italienisch. Die beiden wirkten sehr verliebt. Er hatte einen Bart und das Seitenhaar kurz geschnitten mit einem hochgebundenen Zopf der sich auftürmte. Ihr Haar war etwas zu blond gefärbt und sie wirkte älter als sie vorgab zu sein. Entspannt und neugierig blickten sie auf das Gewässer und die sich nähernden Inseln.
Das Handy klingelte zum 10 x seit sie angekommen war und sie fischte es umständlich aus ihrer grossen Handtasche. „Ja-“ fragte sie, den Blick immer noch auf die Weite der Lagune gerichtet. „Herzlich Willkommen in Venedig“, sagte er- und lachte. Seine Stimme klang etwas nervös aber voller Wärme und echter Freude. Sie entspannte sich. „Komm doch ein paar Tage nach Venedig“, hatte er ihr vor kurzem geschrieben, „Ich habe ein Bungalow gemietet und wir mieten ein Fahrrad, dann fahren wir mit der Fähre zur Stadt und sehen uns die Biennale an und sprechen über unser Buch“.
Ihr Terminkalender war leer, so wie sie generell von Leere gefüllt war seit sie die Stadt verlassen hatte um in dem kleinen Holzhaus am Waldrand zu wohnen. So hatte sie einen Flug gebucht und ein paar Tage später schon fand sie sich wieder in dem kleinen, menschengefüllten Boot umgeben von fröhlichen Touristen aus aller Welt.
„Hör mal, steig lieber schon ein paar Stationen früher aus, wir treffen uns dann dort und du kannst etwas essen“. Sie hatte tatsächlich Hunger und die Vorstellung mit ihrem Koffer durch die Touristen überfüllte Stadt zu laufen hatte ihr wenig behagt. An der zweitnächsten Station stieg sie aus und fand sich auf einer kleinen, stillen Insel wieder. Ein langer Steg führte über das Wasser auf festen Boden, wo sie sich in Ruhe umsah und etwas wunderte, über die sonderbare Verabredung. Erst das Wasser, nun die kleine friedvolle Insel; ein langsames sich annähern an der Puls der Stadt, einen Moment Atem schöpfen von dem Trubel des Flughafens und Stille schöpfen. Es behagte ihr, in dieser Weise zu reisen.
Die Insel war idyllisch und friedvoll im Abendlicht, grosse Bäume und eine Steinmauer umrandeten das Ufer, sonst waren nur einige Spaziergänger mit ihren Hunden zu sehen. Nichts mehr. Sie wählte seine Nummer und fragte: „Wolltest du mich in die Verbannung schicken“?
Während sie noch sprach, sah sie die kleine (wiederum menschenleere) Bar mit einladend weissen Sesseln und bestellte sich einen Coffee senza latte und eines der getoasteten Brötchen mit Aubergine und Ziegenkäse. Während sie den kleinen Imbiss gemütlich verzehrte, sah sie am Steg das nächste Boot anlegen und wieder weiterfahren. Wieder klingelte das Telefon. „Ich habe deine Insel verpasst, bin mit der Fähre vorbei gefahren, steig in das nächste Boot Richtung Lido, ich bin dann schon an Bord“, textete er per sms.
Sie bezahlte, lächelte den jungen Barkeeper an und packte ihren Koffer unter die Schulter, so dass sie gerade noch rechtzeitig die Fähre erreichte, auf der er ihr entgegenfuhr. Er winkte, gross und schlank, inmitten der zahlreichen lachenden Touristen und sie begrüssten sich formell. Das Boot schwankte mitunter und er erzählte ihr jene und diese Sehenswürdigkeiten, an denen sie vorbei glitten, während der Zauber dieser eigentümlichen Stadt ihr Herz begrüsste und um Einlass bat. Er trug Turnschuhe, Jeans und ein graues T- shirt, um den Hals war ein blauer Schal gewickelt. Sie trug keine Gummistiefel, wie er fälschlich dachte, denn er hatte sie gewarnt um das Hochwasser beim vollen Mond, sondern teure Herbststiefel aus Dänemark mit einem kurzen Rock und einem safrangelben Pullover. Kurz vor der Abreise hatte sie sich noch einmal umgezogen, den schwarzen Kaschmirpullover mit dem safranfarbenen Top getauscht.
Es war warm, viel wärmer, als die hervorgehenden Nebeltage zu Hause, wo sie gerade drei wunderbare Tage mit einem Freund verbrachte, der aus seinen neuen Büchern las, am grossen Kamin, versteht sich, mit einem guten Wein und einigen auserwählten Gästen. „Braucht die Welt noch Kunst“? - War eine der Frage welche sie bewegt hatten und aus einem kurz gefassten Leseabend entbrannte bis spät in die Nacht die Frage, will Kunst, MUSS Kunst, muss der Künstler nicht in absonderlicher Weise desinteressiert bleiben über die Kunst die er produziert und dem materiell kommerziellen Gewinn, welche sie hervorbringt, oder auch nicht?
Muss ich, schreiben? Fragte sie sich nachdenklich. Als Schriftstellerin wusste sie um den Sog, der jedes neue Buch in ihr aufschloss, wo Aussenwelt über kurz oder lang in Vergessenheit geraten musste, um den inneren Faden nicht zu verlieren, den jeden Autor führt und leitet. Was aber, hatte sie der Welt schon entgegen zu setzen, ausser dem Schreiben, dieser freien Welt, in der sich gestalten konnte nach ihrem Belieben. Die Angst, inspirationslos zu werden und den Kraftstrom nicht im richtigen Moment zu greifen, wenn er sich als formlose Idee noch in ihren Geist senkte, hatte sie wieder einmal viel zu lange gelähmt. Nun trafen sie sich in Venedig, um über ein neues gemeinsames Buchprojekt zu sprechen und um möglicherweise auch, Ideen zu sammeln.
Er hatte ihr schon vor ihrer Ankunft berichtet, dass er Mühe hatte, sich auf ein weiteres Projekt einzulassen und der Antrieb fehlte, obwohl er Lust dazu empfand. Müde von seiner Arbeit als Arzt und müde vielleicht auch von den Enttäuschungen der Liebe, trafen sich zwei Unbekannte fast, auf der Giudecca wo er ein Aperol „halber Liter“ bestellte und in seine grosse grüne Olive biss. Die Sonne ging gerade unter. „Willst du überhaupt etwas sehen von der Biennale?“ fragte er sie. Sie wusste es noch nicht genau. Das Meer lag zu ihren Füssen, durch das Abendlicht in ein smaragdgrünes Blau getaucht, die Kathedralen der Stadt anmutig verteilt zu ihrer Linken und Dschunken, wie sie es nur in HongKong vermutet hätte segelten und tuckerten an ihnen vorbei. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie das Wasser.
Später spazierten sie durch Gärten und er zeigte ihr dieses und jenes Kunstwerk, verteilt wegen der Biennale auf Hinterhöfe, Piazzis uns elegante Villen, neben spielenden Kindern und der weisse Wäsche, die überall flattert und Hunden, überall Hunde die mit ihren Besitzern flanierten. Ein seltsamer anmutiger Friede ging von diesen Hunden aus, die so gar nicht in diese Wasserstadt zu gehören schienen. Kleine Grünflächen nur dienten ihnen zum kurzen Spiel, dennoch sah man nirgends, wie sonst an anderen Brennpunkten von Hundeliebhabern ihre stinkenden Ausscheidungen. Alles war gepflegt, anmutig und sauber. Der Landesteg nahe San Marco verströmte eine friedliche Abendstimmung und die Menschen auf der Fähre waren, wiederum fröhlich und wohlgemut, es plätscherten Gespräche in allen Sprachen vor sich hin während sie die Müdigkeit bemerkte, welche sie ganz plötzlich überkam. „Das sind alles Touristen, hier auf diesem Boot“. bemerkte er.
„Das glaube ich nicht“, erwiderte sie, die rundlichen Damen betrachtend, die zufrieden mit ihren Taschen auf ihrem Schoss bei einem Schwatz nach Hause fuhren. Einige der jüngeren Fahrgäste hatten sich auf den Boden des Bootes gesetzt und lehnten sich müde an das Geländer, die letzten Sonnenstrahlen des Tages im Haar. Eine schöne, satte Mattigkeit überkam sie, genährt von den Eindrücken des ersten Tages und dem herrlichen Gefühl des Reisens, des langsamen Ankommen und der vertrauten herzlichen Bereitschaft ihres Gegenübers, ihr den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen.
„Warum die Beziehungsdramen“, hakte sie nach und bestellte eine weitere Karaffe Wein, „warum der Schmerz, wenn doch so viel Licht vorhanden ist?“
Nachdenklich tranken sie vom Wein, schlug die Beine übereinander und zündete eine Zigarette an. Brauchten wir den Andern, das Du, um die eigene unerschütterlichen Abgründe die wir nicht fühlen können, an ihm und an ihr zu erleben?
Verweigern wir das Dunkel, indem wir uns zu sehr mit dem Licht, dem Wahren und Schönen identifizieren. Seine Müdigkeit war ansteckend und doch fühlte sie sich in ihr geborgen, eine Art von Mattigkeit, die man als resigniert empfinden könnte, wenn da nicht diese feine Wachheit wäre, wenn er nach einigem Schweigen die Gedanken weiter führte. „Würdest Du dir wünschen können, was Du wirklich willst, wo führte es dich hin”, fragte sie leise. „Es führte dahin, dass unsere Wünschen Gesetz würde, als unmittelbare Zukunft. Ihr würden direkte Manifestation folgen. Dein Wille geschehe“, antwortete er und lächelte. „Lass uns weiter gehen, es wird kalt und ich habe Hunger.“
Zielstrebig führte er sie an einigen Bars und Restaurants vorbei, die von Einheimischen die auf einen Tisch warteten belagert waren.
„Wie können wir davon ausgehen, dass das was wir uns wünschen das Richtige ist?“ fragte sie ihn, während sie ihre Jacke zuknöpfte.
Es war dunkel geworden. Dabei überlegte sie, in wie fern sie es nicht gerade immerzu vermieden hatte, sich dasjenige zu wünschen, wonach sie sich mit ganzem Herzen sehnte. Meist war der Drang, den Wunsch in Aussenwelt zu überprüfen, seinem Bestreben, seiner Realisierung und seinen Auswirkungen das Gegenüber der Welt oder dem Andern entgegen zu setzen als unsichtbare Richtschnur über die Richtung, mit der sie sich durch ihre Wünsche bewegte.
Lieben wir nur dann ganz und vorbehaltslos, wunderte sie sich, als er sie sanft durch die Menschenmenge schob, wenn wir Garantie verspüren, ebenso zurück geliebt zu werden?
Was, wenn meine Liebe einfach einem Strahlen der Sonne gleich lieben könnte ohne Frage nach der Reaktion im Andern.
Was, wenn Liebe Wissende würde, eine Kraft die sich weder um den Ausgang der Dinge noch um ihre Zusammensetzung kümmerte.
Eine Kraft die liebt, weil sie lieben MUSS?
Man sprach rege und laut in den engen Gassen, trank viel Alkohol und wartete in Ruhe bis zu einer Stunde auf einen freien Platz in den Cafes. Zwei der ruhigeren Restaurants die er ansteuerte waren gefüllt von gelangweilten Gästen, man sprach englisch. Sie hatten sich gesetzt und entsetzt bemerkte sie die Lustlosigkeit mit der diese Touristen an ihrem Essen herumstocherten. Der Kellner kam gelangweilt an ihren Tisch und wollte ihnen die Speisekarte überreichen, da lachten sie beide laut auf, denn im selben Augenblick hatten sie sich entschieden, hier keineswegs zu essen.
Sie verabschiedeten sich fröhlich und liessen sich einmütig durch die Gassen treiben um ein geeignetes Lokal zu finden, welches ihre Lust an wahrer italienischer Kochkunst befriedigen würde.
Sie wunderte sich, dass niemand in die Kanäle fiel, zumal sie beide nun auch schon einiges getrunken hatte und man sich gut vorstellen konnte, wie bei späterer Nacht ein Fehltritt ein unliebsames Bad in dem überall gegenwärtigen brackigen Wasser bescheren würde.
In einer kleinen Seitengasse fanden sie einige winzig kleine Restaurants, vor denen sich wiederum eine grössere Schlange von warteten Gästen platziert hatten. Sie studierten die Speisekarten und fanden das Angebot es wert, sich unter die Wartenden einzureihen. Ein Glas Prosecco wurde ihnen dabei in die Hand gedrückt, es war spät aber warm und die Atmosphäre freundlich und friedvoll. Der Kellner führte sie nach einiger Zeit an einen frei gewordenen Tisch und bediente sie mit einem schelmischen Charme, der ihrer Stimmung zugute kam. Die herrliche Vorspeise aus Schwertfischgelee und Polenta teilten sie sich, er trank Weisswein, sie roten Wein aus Valdobiaddene. Ihre Spaghetti mit kleinen Miesmuscheln schmeckten vorzüglich und auch er war zufrieden mit seinem Steak. Später teilten sie ein Teller köstliches Tiramisu und vergassen alle Zeit der Welt, verloren im angeregten Plaudern der italienischen Gäste die sich angeregt unterhielten, umsorgt von ihrem liebevollen, neckischen Kellner der sie beide zu schätzen schien.
Zufrieden zahlten sie und machten sich auf den Weg zur letzten Fähre der Nacht, zurück zu ihrer Halbinsel. Während die Fähre gemächlich brummelte und der milde Nachtwind wehte, schloss sie die Augen und versuchte das Dunkel, von dem sie am frühen Abend gesprochen hatten, formbar in ihrem Innern zu finden. „Man muss das Leben zu feiern verstehen. Es müsste ein einziges grosses Fest sein“, dachte sie, das ist die einzige Strategie, mit diesen unerlösten Fragen umzugehen. „Ich habe viel Ja gesagt“, hatte er vorher im Restaurant beiläufig gesagt, „nun lerne ich das Nein“.
Diese Worte klangen in ihr nach, als sie leise vor sich hin schlummerte, vom sanften Wiegen der Fähre gehalten. „Liebe ist jenseits von sexueller Prägung“- war der Satz, den sie an der tiefsten Stelle ihrer inwendigen Dunkelheit berührte und schlagartig aufweckte. Er hatte sich etwas abseits gesetzt und blickte ruhig auf das Meer. Warum wusste sie, dass er diesen Satz nicht gerne hören würde? Sie lächelte ihm zu und er fragte, ob sie müde wäre. Der Gedanke, nun noch mit dem Fahrrad über die schwarze Halbinsel zu fahren erfüllte sie keineswegs mit frohen Gedanken, als sie dann aber schweigend und Seite an Seite im Nachtnebel radelten, war sie dankbar um die frische Kühle, die ihr einen wunderbar frohen Schlaf bescherte. Traumlos. Ein Tag. Ein Leben? Ein Tag nur, und er war gut. Es war ein guter, satter Tag gewesen.
Sie stehen in einer venezianischen Bar, trinken kalten Wein, als sie fragt: „Wovor fürchtest du dich?“ Und er sagt: „Es ist das Licht.“ Nicht die Dunkelheit. Nicht das Fremde. Es ist das Übermaß an Sichtbarkeit, die Überbelichtung der Seele, das Grelle, das Greifbare. Und in diesem Moment – der so leicht, so beiläufig erzählt wird – liegt vielleicht schon der Keim des gesamten Essays verborgen: eine Gesellschaft, die die Dunkelheit fürchtet, wird ihre Wahrheit verlieren.
Cancel Culture ist ein Ausdruck dieser kollektiven Lichtphobie. Was einst das Projekt der Aufklärung war – Sichtbarmachung, Benennung, Enthüllung – wird heute in ein moralisches Überwachungsregime verkehrt. Wer nicht leuchtet, wird verdächtig. Wer nicht laut und klar Position bezieht, wird angeklagt. Wer tastet, wer zögert, wer ambivalent ist – wird zur Projektionsfläche kollektiver Angst.
Doch Kunst, wahre Kunst, funktioniert anders. Sie lebt im Zwischenraum. Figuren, die nicht handeln, sondern sich fragen. Die nicht urteilen, sondern sich aneinander stoßen wie Kontinente im Nebel. Die nicht „canceln“, sondern verweilen. Es ist ein Dasein, das sich nicht über die Eindeutigkeit, sondern über die Wunde legitimiert, über die zarte Zumutung der Nicht-Lösung.
Sie reisten, sie sprachen, sie beobachteten. Und in allem, was sie taten, war eine tiefe Ambivalenz gegenwärtig: zwischen Licht und Dunkel, Nähe und Distanz, Form und Auflösung, Ausdruck und Schweigen. Sie standen inmitten einer Welt voller Kunst und Körper, fragiler Existenzen und greller Fassaden – und stellten die Fragen, die heute kaum mehr gestellt werden dürfen, ohne Gefahr zu laufen, „gecancelt“ zu werden: Was bedeutet Wahrheit, wenn sie schmerzt?
Was bedeutet Liebe, wenn sie nicht beantwortet wird? Was bedeutet Freiheit, wenn sie missverstanden wird?
Das Zitat bezifferte: LIFE STARTS WHEN FEAR ENDS.
Sie hatte zwischen zeitlich die dänische Ausstellung der Biennale besucht, eine Installation im Dunkel, über das Wesen des Lichts. „ DO NOT RESIST THE DARK: IT IS YOUR ORIGIN“- war die wesentliche Aussage der gelungenen, im tiefsten Sinne rituellen Installations-Performance der dänischen Künstlerin. Sie hatte ihre Platzangst überwunden und war in dem komplett schwarzen Raum geblieben, in dem sie während 30 Minuten in eine Welt zwischen Geburt und Tod getaucht war. Wohl hörte sie am Ende die beflissenen urteilenden Kommentare der anderen Zuschauer, war selbst aber so ergriffen von einer ihr unbekannten Art und Weise, dass sie aus dem dunklen showroom stolperte und sich in den grellen Farben der friedlichen Cafe Trinker auf der Piazza geblendet fühlte.
Lange Zeit sass sie still und ohne Worte.
Das Wetter hatte sich gesteigert und die Sonnenstrahlen vertrieben gerade den letzten Nebel. Es war ausser ordentlich warm für die herbstliche Jahreszeit und sie freuten sich über die Doppeldecker-Fähre, in der es genug Platz gab um im Freien zu sitzen. Die lange Warteschlange am Eingang der Biennale störte ihre gute Laune kaum. Ganze Schulklassen strömten herbei, die Jugendlichen offensichtlich froh, dem Unterricht in dieser Weise zu entkommen nutzten sie jede Gelegenheit zum Flirt. Sie beobachtete, wie gleich in den Pferde-Herden ein Alpha-Tier Anführer und Anführerin gab, welche die Wortgefechte austrugen, während jeweils 3-4 der schwächeren (oder weniger selbstbewussten Mitschüler/innen) beisammen standen und froh waren, nicht all zu sehr in Aktion zu treten. Dennoch empfand sie eine eigentümliche Traurigkeit bei diesem Schauspiel, denn es schien wenig Spielraum für die niederen Ränge. Es blieb den Mädchen nicht viel anderes zu tun, als sich von ihrer Leitstute, meist einem dominanten Mädchen mit der besten Kleidung und Figur anzuschliessen und dabei sozusagen als stiller Mitläufer ein wenig von dem Wetteifer der Jungen abzubekommen, die sich wiederum um ihren Anführer scharten (gleichwohl jener, mit der stärksten Körperspannung, den ausgefallensten Kleidern und dem sichersten Auftreten). Es wurde gekichert, geneckt und zuweilen auch körperlich gerangelt, das Bedürfnis nach tieferem Kontakt und körperlicher Einigkeit war förmlich zu riechen. Die Lehrer/innen standen ernst und kunstbeflissen vor ihren Klassen, froh wohl auch, ihre Horde von pubertierenden jungen Menschen durch Kunst eine Form der Kulturbildung nahe zu bringen. Biennale in Venedig! Ein Pilgerstrom von Kunstbeflissenen, Kuratoren,
Kunstsammlern, Kunstschaffenden, Mäzenen und Mäzeninnen, Kunstjournalisten und was auch immer strömten in endlosen Scharen durch die Gärten der Ausstellung in einer anmutigen, andächtigen und erwartungsvollen Haltung. Eine kleine Welt in sich, dachte sie wehmütig. Eine friedliche kleine elitäre Welt, die sich hier trifft um zu bewerten, Inspiration zu sammeln oder um sich zu zeigen. Ihm indessen schwindelte es und sie setzten sich auf eine kleine Bank mit Blick auf die Lagune.
Er bestellte ein Pannini und schien sich über seine physische Schwäche zu ärgern. Sie blickte gedankenverloren auf das Glitzern des Wassers und fühlte des grossen Frieden dieser kleinen Insel in dankbarer Weise.
Auch dies, ein politisches Statement, dachte sie, der Frieden dieser vielen Nationen und Aussteller, die sich hier im Namen der Kontemporären Kunst treffen.
„Man müsste ein Foto von Dir machen“, sagte er, wie sie an das Geländer gelehnt stand, mit ihrem schwarzen Kleid. Dann ass er weiter und beachtete sie kaum. Sie spazierte durch einige der Ausstellungen und liess ihn für eine Weile mit seinem physischen Unbehagen allein. Während sie später auf ihn wartete und die Besucher beobachtete, fiel ihr auf, wie viel unsichtbare Lasten diese Körper aus aller Welt mit sich trugen. Der Eine zog sein Bein hinter sich, die Andere schien unter der Schwere ihrer Schultern kaum auf recht stehen zu können, der Dritte humpelte und schien von schweren Schmerzen im Hüftapparat geplagt. Selten hatte sie so viel Leid und Unbehagen in den Körpern von Menschen wahr genommen. Als sie sich vor dem italienischen Pavillon trafen, sprach sie ihn darauf an, obwohl ihr nicht entgangen war, dass auch er schwer atmete und sich alles andere als gut fühlte.
„So viel Schönheit hier“, meinte er schmunzelnd, „zeigt das Missbehagen deutlicher vielleicht?“.
Sie stimmte ihm zu. Die Kleidung der Kunstbeflissenen war extravagant und schräg kreativ, das Haar in fast reaktionärer Weise ungewohnt frisiert, Brillen in allen Formen, hauptsächlich auffallend und markant und die stille Ehrfurcht die sie alle miteinander verband, inmitten des zauberhaften Gartens mit den vielen Blickstellen auf die Lagune; durchaus wäre denkbar, dass dies alles ein verzerrter Kontrast zu den alltäglichen Leiden und Gebrechen der fragilen Menschenkörper führte. Während sie sich nachdenklich der Sonne zuwandte legte er sich neben ihr in das Gras und murmelte etwas von den Bäumen. Wie schön diese Bäume doch sind. Ihre mächtigen Wurzeln und ihre bunten Kronen waren tatsächlich mächtige Ruhepolen in dem munteren Kommen und Gehen der Menschen.
Später trennten sich erneut ihre Wege und als sie sich wieder sahen, berichtete er von einer Ausstellung im Ägyptischen Haus, dessen Inschrift das Zitat bezifferte: LIFE STARTS WHEN FEAR ENDS.
Lange Zeit sass sie still und ohne Worte.
Das Dunkel. Schwärze. Schwarze Nacht. Ein Freund hatte neulich in ihrem abgeschiedenen Haus am Waldrand zu ihr gesagt: „ Die Dunkelheit hier oben wo du wohnst, die schützt dich. Angreifer benötigen Licht“. Die dänische Performance- Künstlerin via Lautsprecher im schwarzen Raum: „Das Licht ist die Form. Was sich in der Form zeigen will, gebirt sich im Dunkel“.
Als sie wenig später im kleinen Cafe am Ufer Salat mit Meeresfrüchten assen, geschahen zwei merkwürdige Dinge. Zum einen erkannten sie den Kellner vom Vorabend wieder, der sich nun als Gast an die Bar des Cafes lehnte und ihnen freundlich zulächelte.
Ob er ihnen zwei Espressi oder ein Drink offerieren dürfe?
Mit einer verbeugenden Geste verabschiedete er sich mit den Worten: You were my best guests ever. Erstaunt lächelten sie sich zu, hatten sie den Kellner am Vorabend doch auch wie ein Gespann ihres wundersamen Tages empfunden der mehr über sie zu wissen schien, als sie selbst es vermochte, anders war sein stilles Schmunzeln kaum zu erklären. Die zweite Sonderbarkeit aber, war ihre plötzliche Stimmung.
Etwas ernstes hatte sich in den frohen Zauber des Morgens geschoben und in seinen Augen sah sie Tränen. Es wäre unhöflich gewesen, es direkt anzusprechen, so nippte sie an ihrem Weisswein und schaute in den Park und das sie umgebende Wasser. Was nur, ging hier vor sich, fragte sie sich. Die Performance im Dänischen Haus hatte sie direkt in die vorher noch abgewehrte Dunkelheit gesetzt, nicht nur physisch, sondern ganz in ihrem Empfinden von sich selbst. Aber sie hatte diese Schwärze als wunderbar empfunden, als Etwas immense wohltuendes, nährendes, kraftspendendes. Er schien ihr von einer Ohnmacht befallen, die allerdings wenig mit Schwäche zu verwechseln war.
„Fürchtest Du deine eigene Autorität“? fragte sie ihn.
Dann fragte er sie nach der Liebe in ihrem Leben. „Die Liebe?“ sagte sie nachdenklich. „Die kurze Version ist die, dass ich sie fand, durch lange Irrwege und dann verlor.“ Er schien irritiert. „Hast Du aufgegeben, sie einfach ziehen lassen, war sie unter unmöglichen Umständen bestellt oder was sind die Gründe?“.
Die Zeit hätte ihnen nicht gereicht, ihm die ganze lange und komplizierte Geschichte zu erzählen. Also sagte sie etwas mürrisch: „Es gibt einfach eine grosse epische Liebe, die wird dir zugeteilt oder nicht. Und dann war es uns nicht bestimmt, sie zu leben.“ Sie wusste, das ihre Stimme leicht pathetisch klang und die vermeintliche Leichtigkeit, mit der sie diesen Satz auf den Tisch legte, zwischen Crossini und Wein und den leeren Espressotassen war seiner wirklichen Frage nicht würdig. Dennoch hatte sie selbst keine andere Erklärung dafür, als dass sie sich wie ein Spielball der Götter gefühlt hatte, die aus unerklärlichen Gründen das finale Glück nicht wollten. Später würde sie vielleicht darauf zurück kommen.
Wie konnte sie ihm erklären, dass sie selbst es gewesen war die in jungen Jahren, bevor sie von Liebe wusste, zu ihm gesagt hatte, er solle seine Liebe zu ihr verwandeln, in eine Liebe, die allen Menschen zuteil käme. Jung, hochmütig und ohne gebrochenes Herz stand sie damals am Flughafen in Denpasar und verabschiedete sich von ihm, der darauf hin Jahre der Irrwege und Dunkelheit auf sich nahm, sie aus ihrem Herzen zu verstossen und dafür Gott und die Welt zu lieben. Schon wieder, das Licht- und die Dunkelheit.
Aus Japan schrieb er ihr: „After you left the light went out“. Sie hatte damals kaum verstehen können, in welcher konkret erfahrenen Realität er das meinen konnte. Warum eigentlich, war sie sich damals so sicher gewesen und zweifelte später, als sie sich abermals nach Jahren wider trafen an genau dieser Aussage. Er hatte seine Aufgabe die sie ihm auferlegte nach bestem Gewissen erfüllt und sie gründlich aus seinem Herzen gestossen. „Im Grunde kann ich dich nicht mehr verlieren, denn du warst schon einmal tot in mir“, hatte er beim letzten Wiedersehen und Abschied am Flughafen in Basel- Mulhouse gesagt. Er war dabei voller Zärtlichkeit und frei von Groll. Hatte sie ihn, nach Wochen der lichten Freude in ihrem unerwarteten Zusammensein auf Bali vielleicht gerade in diese Dunkelheit gestossen, die sie selbst so fürchtete und die nun in stillem Ernst wie zu Gast an ihrem Tisch stand?
Der Kellner vom Vorabend lehnte immer noch an der Mauer des Cafes und rauchte eine Zigarette. Ab und zu lächelte er sie beide an ohne dabei aufdringlich zu sein.„Was sieht er nur in uns?“ dachte sie. Zwei Touristen die sich ernsthaft im Gespräch vertieft über den Tisch beugen, graziös ihre Espressi nippen und dann in Tränen ausbrechen? Sie zahlten und gingen einige Schritte Richtung Landesteg, immer wieder innehaltend, Gedanken hin und her bewegend. „Ich verstehe das nicht“, sagte er, „warum kämpfst du nicht um diese Liebe. Warum lässt du sie einfach ziehen?“.
Weil ich nicht weiss, ob mir das Recht zusteht, zu urteilen, ob ich wirklich liebe, dachte sie.
Was, wenn sie ihn wieder in die Irre führte und ein zweites Mal sein Leben zerstörte.
„Es ist vorbei“, sagte sie und steuerte auf einen Bankomat zu, um etwas Geld abzuheben. „Es gibt nichts weiter dazu zu sagen. Diese Art von Liebe, ist für die Götter.“
Was war dies für ein Ort; wo die Furcht endete und das Leben begann- oder dort, wo der Raum schwarz im Da-zwischen von Tag und Nacht, Leben und Geburt, ewiger Wiederkehr oder Matrix aller unserer Lebensentwürfe auszufinden war.
Sollte es diesen Raum geben und hätte man ihn jemals bewusst betreten, so wäre jeder Lebensentwurf einer, den wir willentlich bejahten, nicht weniger sogar selbst uns auferlegten. „Hast du genug von der Dunkelheit in dich aufgesaugt um das Leben zu riskieren, wie du es dir wirklich wünschst?“ hatte die Frage des dunklen Schwarz inmitten der Performance aus den Lautsprechern gestellt.
Bin ich Mensch genug, fragte sie sich; um Entscheidungen so zu treffen, dass sie sich erfüllen, ohne dass ich dabei aus Angst der eigenen Gestaltungskraft gegenüber wieder in Ohnmacht und Opfertum falle, einem anderen Gott die Macht zuschreibe oder einem Menschen.
Kann ich das?
Dann aber, muss ich wissen was ich WILL. Und wie kann ich wissen was ich will, fragte sie sich als sie sich an das Deck der Fähre bewegten, wenn ich nicht weiss was es heisst zu lieben?
Die Protagonisten durchwanderten an der Biennale in Venedig diverse Ausstellungen, Performances, Erinnerungen. Die Dunkelheit wurde nicht mehr als Feind begriffen, sondern als Ursprung, als Matrix, als heiliger Zwischenraum. Im dänischen Showroom hieß es: „Do not resist the dark: it is your origin.“ In einer Welt, die zunehmend auf Sichtbarkeit, auf Meinung, auf moralische Eindeutigkeit drängt, wird das Dunkle, das Nicht-Festgelegte, das Nicht-Verständliche immer schneller aussortiert – gecancelt.
Und da, in dieser lichtüberfluteten Welt, geschieht das Gegenteil von Erleuchtung: Ein Übermaß an Licht wird zur Blendung. Der Mann mit den hellblauen Augen sagte: „Zu viel Licht in mir, zu viel des Leuchtens…“ — Eine Aussage, die paradoxerweise das beschreibt, was Cancel Culture oft unbewusst betreibt: eine Pathologisierung von Ambivalenz. Wer nicht sofort die richtige Meinung äußert, wer tastet, sucht, fragt, bleibt nicht im Diskurs – er wird aus ihm entfernt.
Doch gerade der Künstler und die Künstlerin feiern das Zögern, das Suchen, das Unfertige. Diese Menschen urteilen nicht über einander – sie fragen, halten inne, bleiben. Sie lassen zu, dass Liebe tragisch ist, dass Schmerz zu Erkenntnis führt, dass man eine Geschichte erst im Dunkel ihrer Wiederkehr versteht.
Sie canceln einander nicht.
Sie erleben eine Welt, in der Performancekunst, Gespräche, Erinnerungen und Blicke den Raum eröffnen, um sich selbst zu begegnen. Und in dieser radikalen Form des Miteinander-Seins stellt sich eine andere Frage als jene nach Schuld, Moral oder öffentlicher Rehabilitierung.
Die zentrale Frage ist nicht: „Wer hat was falsch gemacht?“ sondern: „Hast du genug von der Dunkelheit in dich aufgesogen, um das Leben zu riskieren, wie du es dir wirklich wünschst?“
Das ist der eigentliche Akt der Freiheit.
Der Akt der Liebe oder einfach nur der Akt des Menschseins.
Cancel Culture ist in diesem Licht nicht einfach nur ein gesellschaftliches Phänomen. Sie wird zu einem Verlust an Tiefe. An Bereitschaft zur Ambivalenz. An Geduld für das Unverfügbare. Es ist der Versuch, durch Ausschluss Klarheit zu erzwingen, wo eigentlich Dunkelheit zumutbar wäre. Und so bedeutet die Weigerung, den anderen zu „löschen“, auch ein Manifest der Liebe.
Nicht eine romantische Liebe. Sondern eine tiefe, wissende, verletzliche Haltung, die das Andere aushält. Die Unsicherheit mitträgt. Die nicht urteilt, bevor der Prozess des Menschseins wirklich gelebt wurde.
Am Ende gehen sie durch dunkle Gassen. Trinken Wein. Halten inne. Und sie fragen nicht mehr, was richtig oder falsch ist. Sondern: Was ist wahr? Was ist lebendig? Was bleibt, wenn wir nicht mehr kämpfen, sondern annehmen?
In einer Welt, in der Cancel Culture Angst vor Komplexität ausdrückt, erinnert uns diese poetische Reise an etwas sehr Altes, sehr Starkes: Liebe urteilt nicht. Sie bleibt.In einem digitalen Zeitalter, in dem jedes Statement mit einem Like oder Shitstorm quittiert wird, wird die Differenz zur Bedrohung. Und so verwandelt sich die politische Idee von Verantwortung in ein neurotisches Bedürfnis nach Kontrolle. Doch Liebe – wie auch Kunst – kennt keine Kontrolle. Sie liebt, weil sie muss. Nicht, weil sie darf.
Sara Ahmed schreibt in The Cultural Politics of Emotion (2004), dass Gefühle in politischen Diskursen als Navigationssystem wirken – sie lenken uns in Richtung Sicherheit, Zugehörigkeit, Ausschluss. Cancel Culture ist, in diesem Sinne, keine rationale Praxis. Sie ist Affektpolitik. Sie entsteht aus kollektiven Verletzungen – und doch wird aus der Anklage oft eine ritualisierte Reinszenierung von Ausschluss. „The moment of naming is the moment of judgement,“ schreibt Ahmed – und vergisst dabei nicht zu fragen, wer überhaupt benennen darf.
Cancel Culture verkehrt den Ort der Kunst in einen der Angst. Denn hier darf nicht mehr irritiert werden, sondern nur noch bestätigt. Hier darf nicht mehr verunsichert, sondern muss erleuchtet werden. Die Zuschauer:innen wollen nicht mehr verwundet, sondern versichert werden.
Judith Butler, in ihrer Schrift Excitable Speech (1997), spricht davon, dass Worte nicht nur benennen, sondern handeln. Sprache ist performativ. Doch dieser Performativität wohnt eine Ambivalenz inne – sie kann verletzen, aber auch transformieren. In einer Cancel-Kultur jedoch wird das Verletzende abgeschnitten – bevor es überhaupt wirken kann, so wird der Schutzmechanismus zur Blockade der Rezeption.
„Lieben wir nur dann ganz, wenn wir Garantie verspüren, ebenso zurückgeliebt zu werden?“
Diese Frage ist nicht nur ein Liebesgeständnis – sie ist eine politische Frage. Denn Cancel Culture will Sicherheit: Die Garantie, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Doch Liebe kennt keine Garantie. Sie ist immer ein Risiko. Wie Kunst. Wie Wahrheit.
Byung-Chul Han schreibt in Agonie des Eros (2012), dass in einer Zeit totaler Transparenz die Erotik stirbt. Erotik, so Han, lebt vom Geheimnis, vom Widerstand, vom Schatten. Wenn alles sichtbar ist, bleibt nichts mehr zu begehren. Die totale Sichtbarkeit – sei sie durch mediale Empörung oder durch moralische Aufklärung erzeugt – tötet den Eros der Beziehung. Und damit auch den Eros der Kunst.
Sprache ist nicht neutral. Wer spricht, wer schweigt – und vor allem: Wer hört zu?
In Zeiten von Cancel Culture wird das Zuhören oft durch die schnelle Reaktion ersetzt. Debatten werden zu Tribunalen, Tweets zu Urteilen.
Hier ist auch Hartmut Rosas Begriff der Resonanz zentral. In Unverfügbarkeit (2018) beschreibt Rosa eine Haltung zur Welt, die nicht auf Kontrolle, sondern auf Antwortfähigkeit beruht. „Verfügbarkeit bedeutet Weltbeherrschung, Resonanz bedeutet Weltbeziehung.“
Ein Plädoyer für das Nichtwissen
Die Figuren nehmen die letzte Fähre. Sie sind nicht erlöst. Nicht gerettet. Aber sie haben einander nicht verloren. Sie haben sich erlaubt, in der Schwebe zu bleiben. Und vielleicht ist das die einzig mögliche Antwort auf eine Zeit, die nach schnellen Lösungen schreit:
Bleib in der Frage.
Wähle das Dazwischen.
Hör auf, zu urteilen. Fang an, zu lieben.
Denn ein System, das sofortige Klarheit fordert, kann kein Zuhause sein für das Widersprüchliche, das Unsichere, das Zärtliche – also für all das, was uns wirklich menschlich macht.
Und vielleicht ist genau das die subversivste Form der Kunst in unserer Zeit:
Nicht zu canceln. Sondern zu bleiben.
Nicht zu belehren. Sondern zu lieben.
Literaturhinweise:
Judith Butler, Excitable Speech: A Politics of the Performative, Routledge, 1997.
Sara Ahmed, The Cultural Politics of Emotion, Routledge, 2004.
Byung-Chul Han, Agonie des Eros, Matthes & Seitz, 2012.
Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit, Suhrkamp, 2018.
Achille Mbembe, Brutalität der Welt: Zur Politik des Lebens, Suhrkamp, 2021.
About the author: CORDULA FREI
is a distinguished author, editor, and curator with a profound dedication to integrative practices, deep ecology, and transformative narratives. As head of media for Integral Perspectives magazine, she has been instrumental in shaping content that explores holistic viewpoints. She co-created Achronon magazine, a platform challenging conventional timelines and narratives, and served as editor for Info 3 magazine, bridging spirituality, culture, and contemporary issues. At Germany’s first regenerative society, Hofgut Leo in Gresgen, she curated cultural initiatives and oversees organizational aspects, promoting sustainable and regenerative practices.
Her longstanding collaboration with Tom Amarque is rooted in a vibrant friendship and a shared passion for critical thinking, questioning societal mainstreams, and shaping transformative narratives. As the author of Soulskin, she explores the initiation journey of the feminine psyche as a deep psychological pilgrimage into personal transformation.
Her life is deeply connected to deep ecology, living among horses and dogs, traveling through vast wilderness to engage in regenerative dialogue with nature. Through her work, Cordula Frei holds the Podcast Serie: “Roots of Enlivenment“ at Parallax Media with a invitation to inspire and lead in the realms of integrative thought, ecological awareness, and cultural transformation.
Write her at cordula@parallax-media.eu